Mittwoch, 27. März 2019

Mäntelchen


Das schöne am Älterwerden ist die Möglichkeit, Verläufe und Entwicklungen zu überblicken. Von meinen 61 gelebten Jahren sind mir, sagen wir mal 57 in deutlicher Erinnerung.  Das ist doch schon ganz ordentlich.


Mein ältester Sohn ist Jahrgang 82. Wir schreiben das frische Jahr 85 und ich habe Elterndienst im Kinderladen.
 Elterndienst im Kinderladen, das kann, das soll , das muss ! 

Richtig Bock habe ich nicht.

  Der Erzieher und ich wollen mit der ganzen Zwergengruppe auf den Spielplatz. Wie gesagt, das Jahr ist jung, es ist Mitte Februar und es ist bitterkalt.
Neun von den Zwerglein lassen sich bereitwillig in Mütz und Schal , in Joppe und Handschuh kleiden , nur A. weigert sich standhaft, sein Mäntelchen anzuziehen.
Sein Mäntelchen ist fast bodenlang, es ist in kräftigem Rosa gehalten und mit einer Blütenborte verziert. Vormals gehörte es A.s Cousine, die dem Textil entwachsen war und es an A.s Mutter weitergegeben hatte.

 Diese, damals arme Studentin, hatte es gern übernommen um es dem Sohne anzuziehen.
 Aber A. möchte dieses Mäntelchen nicht anziehen, denn es ist ein Mädchenmantel und unter seiner Würde, so ! SO ! SO !

Neun fertig angeklaterte Winterkinder warten nun auf A. der sich mit zusammengepressten Lippen und steif an den Körper gedrückten Armen der Ankleidung entzieht. 
Wir stehen unter Druck, die Gruppe wird quengelig und eine Ende von A.s Widerstand ist nicht abzusehen.
Ein Kinderladen ist ja nun etwas zutiefst demokratisches, etwas, in dem die Kinder auch Selbstregulation lernen sollten und Selbstbestimmung.( A. kann das schon, das mit der Selbstbestimmung )
 Allein lassen konnten wir den Schreihals nicht , eine andere Jacke gabs nicht.
 Also Mäntelchen unter meinen Arm geklemmt und los. Wird er schon kommen , der kleine Wüterich und ums Textil bitten.(Selbstregulation , ha ! ) 


Eine Stunde waren wir unterwegs, der kleine Wicht jämmerlich bibbernd, aber tapfer im Widerstand.
Das Mäntelchen wurde, auch  vor Kälte schlotternd und blaulippig ,verschmäht, verfemt, ignoriert.
 Erzieher Clemens opferte dem Kleinen seinen viel zu großen Pullover,  schließlich konnte ich das Ganze nicht mehr ertragen. Ich bot dem Winzling an, ihn wenigstens den Weg zum Kinderladen zurück zu tragen und zwar unter meiner großen Jacke . Erschöpft und durchgefroren hat er endlich aufgegeben,  lies sich hochnehmen und wärmen.

 Das ist inzwischen 34 Jahre her. A. hat den Vormittag ohne Schaden überlebt, das Mäntelchen verschwand anschließend sang und klanglos in der Kleidertonne und A. bekam eine ihm genehme Jacke.

Heute kommt A. um ein Mäntelchen nicht mehr herum, zumindest zeitweise.
 
A. ist Jurist geworden, genauer gesagt, Strafverteidiger. Immer, wenn ich das Wort Anwalt höre, muss ich an den Mädchenmanteltag denken, an dem der Kleine ,mit Zähnen und Klauen, für das kämpfte, was er nicht wollte. Eigentlich war er damals schon Anwalt. 

 Sollte ich einmal straffällig werden, dann ist meine Wahl der Verteidigung klar. Und ganz sicher wird A.dieses Mal sein Mäntelchen tragen, bodenlang und schwarz !!!


Warum ich das erzähle. Weil ich aufräume und dabei viele Dinge aus meinen  gelebten Jahren wiedertreffe.


 Heute war ich an einen anderen Mantel (bodenlang und schwarz); geraten, den Gothic-Lieblingsmantel des mittleren Kindes, ein erinnerungsträchtiges Stück. Ein paar Jahre war dieses Kleidungsstück nicht wegzudenken aus den Gewohnheiten des Sohnes. Er war sozusagen der Mantel.



Sehr viele Sachen  habe ich schon entsorgt, bei den meisten habe ich kein Problem, sie wegzugeben. Manches allerdings ist emotional hoch besetzt und da fällt es mir schwerer, dauert es länger, den Gegenstand ziehen zu lassen. 
Wie beim Gothic-Mäntelchen.... Ach ja...

Der Wandlungsprozess vom Familienhaushalt zur Paarwohnung beschäftigt mich sehr.
Ist einer meiner wichtigsten Themen. .. das wird hier schon zu merken gewesen sein. Manchmal brauch ich da ein warmes Mäntelchen..

.Aber keine Bange, ich bin nicht deprimiert oder so. Nur nachdenklich !



Mit Würde gealtert, dabei immer er selbst. Der Schorsch. Den ich vor kurzen bei einen Konzert im Pavillion mit altem und neuem Liedgut erleben konnte. Immer noch verrückt, immer noch ein bisschen jung und auf jeden Fall ein bisschen weise. Passt scho !




4 Kommentare:

  1. Die Stimmung des Lieds kann ich gut nachvollziehen.

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  2. Liebe Gitta,
    danke für die schöne Geschichte von A. und dem Mäntelchen von einer sonst stillen Mitleserin.
    Lieben Gruß
    Katja

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  3. Wir sollen nur tiefer und wunderbarer hängen an dem, was war,
    und lächeln: ein wenig klarer vielleicht als vor einem Jahr.

    Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

    DANKE für´s Mitunsteilen ... ♥ *umärmel*

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  4. Was für ein wunderbares Bild: das Mäntelchen. Zum widerständigen bei sich bleiben genau wie als wärmendes Geborgenheitsstück und Fähigkeit Wärme zu teilen und anzunehmen.Gewächshaus. Schöne Nachdenklichkeiten!
    liebsten Lisagruß!

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